Ecstacy: Wie gefährlich ist die Droge der neunziger Jahre wirklich? Eine Bestandsaufnahme


    von Manfred Kriener und Walter Saller



    Rund 700 000 junge Leute haben in der Bundesrepublik im vergangenen Jahr nach amtlichen Schätzungen die synthetische Droge 3,4-Methylendioxymethamphetamin (MDMA ) geschluckt. Bei Parties und Techno-Raves hört der chemische Zungenbrecher auf drei magische Buchstaben: XTC - Ecstasy, die Droge der neunziger Jahre. Mit großem Schwung ist die amtliche Beschlagnahmekurve der Pille in den vergangenen Jahren nach oben geschnellt. Schon von 1992 auf 1993 meldeten die BKA-Fahnder eine Verdoppelung der sichergestellten Tablettenmengen, von 1993 auf 1994 sogar eine Vervierfachung. Ähnlich wie 1995 nahm auch im vergangenen Jahr die Zahl der "erstauffälligen" Konsumenten zu, um 65 Prozent. Knapp 700 000 Pillen ("Konsumeinheiten") wurden sichergestellt. Die Menge der tatsächlich verkauften Tabletten dürfte mindestens zehnmal so hoch sein.

    Die rasch steigenden Zahlen sind nicht allein mit verstärkter Fahndung und Polizeipräsenz zu erklären. Jugendforscher und Drogenberater haben in soziologischer Detektivarbeit den Trend zu XTC bestätigt. Inzwischen hat Ecstasy die Techno-Szene verlassen, konventionelle Discos und den Jugendfreizeitbereich erobert.

    Nach einer bundesweiten Untersuchung des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie hat sich seit 1990 die Zahl derjenigen, die schon einmal in ihrem Leben Ecstasy probiert haben, verdreifacht. In Westberlin hat die Pille bei den Fünfzehn- bis Siebzehnjährigen inzwischen sogar Cannabis abgehängt. Dreizehn Prozent hatten in dieser Altersgruppe im vergangenen Jahr mindestens einmal Ecstasy genommen, 11,3 Prozent einen Joint geraucht. Als Hamburger Suchtexperten die Besucher von Techno-Clubs und anderen Szenetreffs interviewten, beantwortete jeder zweite Raver die Frage: "Nimmst du Ecstasy?" mit "Ja".

    Eduard Lintner, der Drogenbeauftragte der Bundesregierung, meldet in seinem letzten Drogenbericht zwanzig Tote in der Rauschmittelklasse von Ecstasy und Speed. Ein Jahr zuvor hatte das BKA achtzehn Opfer registriert. Ecstasy eine tödliche, in ihrer Toxizität verharmloste Massendroge?

    Wer sich die amtlich gezählten Todesfälle genauer ansieht, stößt auf Ungereimtheiten. Ein direkter Zusammenhang zur Tabletteneinnahme läßt sich in den meisten Fällen nicht nachweisen. Die Obduktionsbefunde sind inzwischen eines der bestgehüteten Geheimnisse der deutschen Drogenpolitik. Von der ZEIT befragte Staatsanwälte und Rechtsmediziner bestätigen übereinstimmend, daß die amtliche Todesstatistik keiner seriösen Überprüfung standhält.

    Denn die überwiegende Mehrzahl der aufgeführten Fälle betrifft Selbstmorde. Die Opfer hatten die Tabletten entweder in der Hosentasche, oder sie waren als User aktenkundig. Nur dreimal fanden die Toxikologen im Blut der Selbstmörder tatsächlich Spuren der Droge. Aber immer waren auch andere Rauschmittel nachweisbar. So stellt sich schnell der Verdacht ein, daß hier Abschreckungsarbeit geleistet werden soll, nach dem Motto: Je mehr Tote, desto besser für die Prävention. Wird der alte Fehler der Drogenpolitik wiederholt und die Glaubwürdigkeit verspielt?

    Der Hamburger Sozialwissenschaftler Manfred Rabes, Lehrbeauftragter für Suchtprävention, warnte beim Bonner Ecstasy-Hearing vor einer fehlgeleiteten Angstkampagne: Verbote und Panikmache würden bei Jugendlichen, die mit Drogen experimentieren, wenig bewirken. "Entscheidend ist die Glaubwürdigkeit der Information über die gesundheitlichen Wirkungen der Drogen." Rabes verlangt eine objektive Aufklärung. Über die "Horror-Propaganda" aus Bonn, sagt Jürgen Kunkel vom Berliner Szeneverein Eve & Rave, würden die Jugendlichen doch nur lachen.

    Dabei sind die XTC-Pillen alles andere als harmlose Smarties. Neue Forschungsergebnisse zeigen aber, daß die hauptsächliche Gefahr nicht das akute Todesrisiko durch Überdosierungen und Zusammenbrüche ist. Sorgen bereiten eher die Langzeitfolgen. Doch auch hier gehen die Einschätzungen der Wissenschaftler weit auseinander.

    Was liegt, achtzig Jahre nach der ersten Synthetisierung, an gesicherten Erkenntnissen vor? Das bitter schmeckende Pulver wird oral aufgenommen und im Magen verdaut. Zwei Drittel der üblichen Dosis von 80 bis 150 Milligramm des Wirkstoffs MDMA werden unverändert ausgeschieden. Nur ein kleiner Teil erreicht das Gehirn. Anlaufstelle ist dort das limbische System im Hippocampus, die Steuerzentrale für unsere Gefühle und Erinnerungen. Ecstasy wirkt auf mindestens drei verschiedene Neurotransmitterpfade, das heißt durch Botenstoffe geregelte zerebrale Informationsleitungen. Hauptsächlich stimuliert es jene Nervenzellen, die das Hirn mit Serotonin überfluten. Dieser Neurotransmitter spielt eine entscheidende Rolle bei der Regulierung von Stimmungen, Schlaf, Sexualität und bei der Vermittlung von Harmonieund Glücksgefühlen.

    Nach Einnahme der Pille tritt als erstes Symptom eine Hyperthermie auf, die Körpertemperatur erhöht sich. Anstiege von zwei Grad Celsius sind im Rattenexperiment bei hohen Dosen von fünf Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht die Regel. In feuchtheißen Clubs und nach ekstatischem Tanzen sind auch bei Ravern Fieberwerte von mehr als 40 Grad Körpertemperatur gemessen worden.

    Mit der Hitze kommt der Bewegungsdrang. Die Atmung vertieft sich, Blutdruck und Pulsfrequenz steigen, auch die Transpiration nimmt zu. Forscher sprechen von einer Hyperaktivität, die sich auf der Tanzfläche entlädt. Trockener Mund, leichter Harndrang, Appetitverlust - schließlich war Ecstasy ursprünglich einmal als Schlankmacher konzipiert - und Kieferverkrampfungen sind weitere häufige Erscheinungen.

    Nach einer guten halben Stunde setzt die Psychowirkung ein. Hemmungen lösen sich, optische, akustische und taktile Reize werden intensiver wahrgenommen, der "Heartopener-Effekt" setzt ein. Entaktogene, also Gefühlserzeuger, nennen Pharmakologen diese neue Stoffklasse. Immer wieder berichtete Erfahrungen sind Gefühle des Eins- und Glücklichseins. Der Göttinger Neurobiologe und Serotoninforscher Gerald Huether sagt: "Ecstasy hilft bei der Angstbewältigung. Alles paßt harmonisch zusammen. Es ist nur noch schön. Dieses Urglücksgefühl erreichen Sie sonst nicht, außer vielleicht für Sekunden beim Orgasmus. Die große Harmonie und emotionale Stabilität das ist es, was Ecstasy so attraktiv macht." Als Aphrodisiakum ist die Glückspille indessen umstritten, entgegen allen Mythen vom erotisierenden Stoff. Die Libido geht bei Langzeitnutzern sogar eher zurück.

    Der britische Neuropharmakologe und Ecstasy-Kenner Richard Green hat nach Durchsicht von mehreren hundert wissenschaftlichen Publikationen den aktuellen Forschungsstand zusammengefaßt. Seine zentrale Botschaft: MDMA ist neurotoxisch, also giftig für Nerven. An Laborratten und Affen wurden Langzeitschäden an den serotoninproduzierenden Nervenzellen beobachtet. Entscheidend für das Zerstörungswerk ist nicht die Reinsubstanz, sondern sind ihre aggressiven Stoffwechselprodukte (Metabolite). Wird MDMA dem Versuchstier direkt ins Hirn injiziert, bleibt die neuronale Schädigung aus. Erst die gefährlicheren Abbauprodukte verursachen "einen Anstieg der freien Radikalen mit oxidativem Streß und Schäden an den Membranen der Nervenzellen".

    Die individuelle Verträglichkeit von MDMA schwankt dabei erheblich, weil jeder Organismus in unterschiedlichem Ausmaß Metabolite bildet. Konsumenten, deren Körper die Droge umfassend ab- und umbaut, zeigen weniger akute toxische Wirkungen, sind dafür aber häufiger von neuronalen Langzeitschäden betroffen. Und umgekehrt: "Schwache" Metabolisierer müssen eher plötzliche Körperreaktionen befürchten. Konkrete Beispiele aus der Literatur belegen die enorme Toleranzbreite: Die National Poisons Unit des Londoner Guy's Hospital dokumentierte den besonders spektakulären Fall eines jungen Mannes, der nachweislich 42 Ecstasy-Tabletten geschluckt hatte. In seinem Blutplasma wurde der unglaubliche Wert von 7,7 Milligramm MDMA pro Liter gemessen. Seine Symptomatik beschränkte sich auf einen leichten Kater mit Herzrasen und Bluthochdruck. Das andere Extrem schildert die gerichtsmedizinische Abteilung der Universität Sheffield: Ein zwanzigjähriger Patient kollabierte auf einer Raveparty. In seinem Blut wurde ein MDMA-Wert von nur 0,04 Milligramm gefunden.

    In Großbritannien, wo die Droge stärker verbreitet ist, sind im vergangenen Jahr sieben Todesfälle als direkte Folge von Ecstasy-Konsum seriös dokumentiert worden. Pathologen der Universität Sheffield hatten ihre Befunde im Journal of Clinical Pathology geschildert. Die Opfer waren junge Männer zwischen 20 und 25 Jahren, die in der Zeit von 1993 bis 1995 gestorben waren. Alle hatten Ecstasy im Blut. In keinem Fall war chemisch verunreinigtes MDMA für den Tod verantwortlich. Die Mediziner entdeckten aber in allen Fällen "ausgedehnte Nekrosen" an der Leber und in fünf Fällen auch am Herzen. Vor allem von den Herzschäden waren die Ärzte überrascht. In keiner anderen Studie war bisher über ähnliche Effekte berichtet worden.

    Ursache der schweren Organschäden waren Blutgerinnungsstörungen, die von einem Untergang der Muskelfasern (Rhabdomyolyse) begleitet waren. Die Wissenschaftler erklären dieses Phänomen mit der Überhitzung des Körpers bei gleichzeitigem Flüssigkeitsverlust. Verblüffend ist die Parallele dieses Ecstasy-Befundes mit den Diagnosen bei schwarzen Minenarbeitern in Südafrika. Auch sie waren unter Tage sehr hohen Temperaturen bei starker Luftfeuchtigkeit ausgesetzt und zeigten auffallend häufig die gleichen nekrotischen Leberschäden. Das stundenlange Tanzen im feucht-heißen Techno-Club hat in seltenen Fällen offenbar ähnlich fatale Wirkungen wie das Malochen unter Tage. Das Londoner Institute of Liver Studies sieht "starke Belege" dafür, daß MDMA und seine Abbauprodukte Leberentzündungen und selbst Zirrhosen auslösen können. Auch Nierenschäden werden in der Fachliteratur diskutiert.

    Angesichts der immensen Zahl von Millionen Ecstasy-Konsumenten in Westeuropa, die Woche für Woche die Pille einwerfen, bleiben die dokumentierten Organschäden wie die Toten allerdings dramatische Einzelfälle. Eve & Rave schätzt, daß allein in der Bundesrepublik in den vergangenen zehn Jahren "drei bis vier Millionen Jugendliche" Ecstasy mindestens einmal probiert haben. Hinzu kommt ein weiteres, kaum lösbares Problem der Ecstasy-Forschung: Nur Ratten im Versuchslabor sind Monokonsumenten. In der Wirklichkeit gehören LSD, Cannabis, Nikotin, Speed, Alkohol, Psilocybin ("Zauberpilze") und Kokain zur Techno- und House-Apotheke. Der Mischkonsum mit seinen unberechenbaren Wirkungen ist die Regel: Neunzig Prozent der regelmäßigen Ecstasy-Konsumenten kombinieren ihre Pillen nach Erkenntnissen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) mit anderen Psychosubstanzen.

    Wie die Szene selbst die Risiken einschätzt, haben die Hamburger Sozialwissenschaftler Wilfried Wilkens, Günter Thiel und Ellen Friedrich in einer noch unveröffentlichten Studie untersucht. Ende vergangenen Jahres befragten sie 669 Besucher von Rave-Veranstaltungen und Techno-Clubs zu ihren Konsumgewohnheiten und den gesundheitlichen Folgen. Fast die Hälfte (42,5 Prozent) der User nannte als häufigsten "negativen Konsumaspekt" depressive Verstimmungen, Niedergeschlagenheit und eine innere Leere am Tag danach. Jeder vierte berichtete über körperliche Beschwerden: Kopfschmerzen, Schwindelgefühle, Konzentrationsverlust, Appetitlosigkeit, Müdigkeit, Kiefersperre und Kreislaufprobleme. Und jeder sechste glaubt, daß XTC neurotoxisch wirken könnte, fürchtet "geistige Spätschäden" oder "Nachwirkungen im Gehirn" durch Ecstasy-Konsum. Eine der Antworten lautete schlicht: "Macht doof".

    83 Prozent der Konsumenten ist die Illegalität der Droge allerdings ganz einfach egal. Die erhofften "Glücksgefühle" sind allemal stärker als gesetzliche Verbote und amtliche Drohgebärden. Auf der Habenseite der Droge notierten die E-Konsumenten eine Vielzahl wolkiger Zustände: "wie im Mutterleib", "die Geborgenheit im Körper drin", "Gefühle absoluter Tiefe".

    Das gesuchte Glück ist indessen nicht beliebig abrufbar. Wer häufiger zur Pille greift, leidet öfter am depressiven Kater, erlebt seltener die positive Wirkung. Konsumenten, die wöchentlich mehr als einmal Ecstasy nehmen, berichteten in der Hamburger Studie nur noch zu 22,2 Prozent vom "guten Feeling" gegenüber 61,7 Prozent unter den moderaten Pillenschluckern. In der BZgA-Studie bejahten immerhin zwei Drittel der 527 befragten User eine "süchtigmachende Wirkung" von Ecstasy.

    Auch Eve & Rave beschreibt in seinem Infoheft für "safer use" die Gefahr "einer psychischen Abhängigkeit", weil die "im E-Film erlebten Glücksgefühle" den Konsumenten nicht mehr loslassen. Sorgen bereiten Jürgen Kunkel vor allem die "harten Konsummuster". Die Safer-use-Regeln - niedrig dosieren, ausreichend trinken und sich erholen, längere drogenfreie Intervalle einhalten - werden offenbar nur von denjenigen eingehalten, die ohnehin ein Risikobewußtsein mitbringen.

    Dauernutzer, die "sich Partydrogen bis zur Kante geben", sind die Klientel von Andreas Ganther. Der Berliner Diplompsychologe leitet die erste Therapieeinrichtung, die sich speziell mit der Modedroge Ecstasy befaßt. Die alten Beratungsstellen seien fast ausschließlich auf Junkies und Alkoholiker abgestellt, kritisiert Ganther, "die traditionelle Drogenhilfe hat sich ganz auf die Schwerstabhängigen geschmissen". Für vermutlich mehrere zehntausend Ecstasy-Konsumenten stehen in der Szenehauptstadt Berlin ganze dreißig Therapieplätze zur Verfügung. In anderen Städten fehlen sie ganz. Auf der Bonner Ecstasy-Anhörung mokierte sich der Essener Drogenhelfer Jürgen Lamm über das Dilemma der Therapeuten: Die E-Konsumenten "passen nicht zu den Alkoholikern, nicht zu den Koksern, nicht zu den Junkies. Für die brauche ich eine neue Abteilung."

    Sein Kollege Ganther sieht die eigentliche Gefahr des Ecstasy-Kults weniger in den rein pharmakologischen als in den psychosozialen Wirkungen der Droge. Die einschlägige Szene hat ihre ganze Existenz auf Events und Raves ausgerichtet. Doch die Partygemeinde ist nach Beobachtung des Berliner Therapeuten ein "schnell zerfallendes Gebilde". Von der oft beschworenen "one family", von "love, peace and unity" ist am Montagmorgen nur noch der Kater übrig. Ganthers Problemkinder packen den Übergang in den Alltag nicht mehr, "ihre zwischenmenschlichen Beziehungen fransen aus". Und hinter der Bodyshow im Tanzclub, der Fassade narzißtischer Selbstverliebtheit kommt "der ganze Müll zum Vorschein": fehlendes Selbstbewußtsein, Angst und Depressionen. Die Zahl der Abgestürzten, resümiert Ganther, nimmt zu.

    Wie gefährlich Ecstasy wirklich ist, wird sich erst in einigen Jahren zuverlässig abschätzen lassen. Gegenwärtig läuft europaweit eine große Befragung an psychiatrischen Kliniken, Drogen- und Erziehungsberatungsstellen - insgesamt 1400 Einrichtungen - zum Ecstasy-Konsum und zu seinen Folgen. Aber bis Häufigkeit und Ausmaß vor allem von hirnorganischen Langzeitschäden ausreichend untersucht sind, läuft in den Clubs ein Großexperiment. Mit offenem Ausgang.

    (C) DIE ZEIT 20.06.1997 Nr.26


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