Cannabis beschäftigt die Schmerzforscher
Artikel aus dem deutschem Ärzteblatt 94, Heft 48, 28.11.97
Natürliche und synthetische Cannaboide haben nicht nur einen
direkten Effekt auf die Schmerzleitung im zentralen und peripheren Nervensystem,
sie können auch Hyperalgesien verhindern. Dies belegen mehrere neue
Studien, die auf dem Jahrestreffen der amerikanischen Society for Neuroscience
in New Orleans vorgestellt wurden. Daß die schmerzlindernde Wirkung
von Cannabinoiden und Opiaten auf unterschiedlichen Mechanismen beruht,
konnte Jeffrey Vivian von der University of Michigan Medical School durch
Versuche an Rhesusaffen nachweisen.
Die Tiere zogen ihre Schwänze (im Vergleich zu Plazebo) weniger
schnell aus einem 50 Grad Celsius heißen Wasserbad zurück, wenn
sie zuvor den natürlichen Inhaltsstoff der Cannabispflanze, Delta-9-Tetrahydrocannabinol
(THC), das synthetische Cannabinoid WIN 55212-2, Heroin oder das synthetische
Opioid U69593 erhalten hatten. "Die Schmerzlinderung war dosisabhängig
und für die Opioide generell besser", beobachtete Vivian. Dem meist
hohen Suchtpotential der Opioide stünde die teilweise sehr schnelle
Toleranzentwicklung mit den meisten Cannaboiden gegenüber.
Spezifischer Rezeptorblocker
DIe Unabhägigkeit beider schmerzlindernder Systeme demonstierte
Vivian durch den Einsatz mehrerer spezifischer Rezeptorblocker. So konnte
der Cannabinoid-Rezeptor-Antagonist SR141716A die Wirkung von THC und WIN
55212-2 unterdrücken, hatte aber keinen Einfluß auf die Opioide
Heroin und U69593. Umgekehrt zeigte der Opioid-Rezeptor-Antagonist Quadazocin
keine Wirkung auf die Cannabinoide. "Die beweist die Unabhängigkeit
der Cannabinoid- und Opioid-Systeme hinsichtlich der Schmerzlinderung",
faßte Vivian die Resultate seiner Arbeitsgruppe zusammen.
In einer weiteren Untersuchung gelang es Donald Simone und seine
Kollegen von der Univerity of Minnesota, eine experimentell induzierte
Hyperalgesie bei Ratten vollständig verhindern. Bei diesem Versuch
wurde den Tieren Capsaicin in den Hinterlauf injiziert - eine Verbindung,
die Chilischoten ihre Schärfe verleiht. Die so erzeugte Hyperalgesie,
die anhand der Druck- und Wärmeempfindlichkeit der Ratten quantifiziert
wurde, konnte die Forscher dosisabhängig durch WIN 55212-2 mindern.
Eine vor der Injektion von Capsaicin verabreichte Dosis von 100
Mikrogramm pro Kilogramm Köpergewicht war ausreichend, um die Hyperalgesie
vollständig zu unterdrücken, ohne die Reflexe der Versuchstiere
- beispielsweise gegenüber Hitze - zu beeinflußen. "Wir wissen
jetzt, daß Cannabioide sowhl die Schmerzleitung als auch die Hyperaktivität
spinaler Neuronen blockieren können", sagte Simone.
Die Möglichkeit, Cannabinoide zur lokalen Schmerzlinderung
einzusetzen, hat Kenneth Hargreaves von der University of Texas an einem
weiteren Tiermodell erfolgreich untersucht. Dabei fand der Pharmakologe
heraus, daß Anandamid - ein weiteres natürliches Cannabinoid
- sowohl prophylaktisch als auch nach einer Verletzung eingesetzt werden
kann.
An isolierten Hautstücken verringerte diese Verbindung anscheinend
die Durchlässigkeit von Glutgefäßen und verhindert so die
Freisetzung schmerzverstärkender Verbindungen. Aus dieser und einer
Reihe ähnlicher Untersuchungen zieht Hargreaces den Schluß,
daß "die periphere Anwendung von Cannabinoide eine neue Schmerztherapie
darstellen könnte, die Nebenwirkungen auf das zentrale Nervensystem
vermeidet".