Expertenbericht als Sprengstoff für Frankreichs Drogenpolitik
Die französische Drogenpolitik und -gesetzgebung entspricht nicht
den heutigen Kenntnissen über Schädlichlichkeit und Suchtrisiken.
Zu diesem Schluss kommt ein im Auftrag des Gesundheitsministeriums erstellter
Expertenbericht, der den Befürwortern eines straffreien Cannabis-Konsums
Argumente liefert.
Paris. Frankreichs Gesundheitsminister Bernhard Kouchner hatte einer Gruppe
von zwölf renommierten Pharmazeuten und Medizinern eine scheinbar
unschuldige Frage gestellt: Welche Gefahren und Risiken für die Gesundheit
bedeuten die verschiedenen Drogen? Die Antwort der Fachleute ist für
die französische Drogenpolitik explosiv. Denn die Kommission unter
Leitung von Professor Bernard Roque reiht den Alkohol neben Heroin und
Kokain in die Gruppe der gefährlichen Gifte, den Tabak in die zweite
Gruppe in Gesellschaft synthetischer Drogen (Ecstasy) und stimulierender
Medikamente (Amphetamine etc.), die Cannabisprodukte (Haschisch, Marihuana)
hingegen in die Kategorie
der am wenigsten schädlichen Stoffe.
Chirac als Drogen-Hardliner
Das Ergebnis dieser im Rahmen des Nationalen Instituts für Gesundheit
und Medizinische Forschung durchgeführten Untersuchung liegt quer
zur gängigen und offiziellen Meinung über Drogenrisiken in Frankreich.
Unübersehbar ist die Diskrepanz zur Repression des Cannabiskonsums.
Dieser stellt in Frankreich, im Unterschied zu vielen europäischen
Ländern, ein polizeilich verfolgtes und gerichtlich geahndetes Delikt
dar.
Noch vor wenigen Tagen plädierte Staatspräsident Jacques Chirac
in New York vor der UNO vehement gegen eine Legalisierung oder Verharmlosung
sogenannt "weicher Drogen", und auch Premierminister Lionel Jospin sprach
sich gegen ein straffreies Haschischrauchen aus.
Millionen von Haschischrauchern
Der Expertenbericht ist freilich kein Freibrief für den Haschischkonsum,
da der Missbrauch von Hanfprodukten nicht als risikolos und ungefährlich
für die Gesundheit eingestuft wird. Aber der Vergleich mit den schädlichen
Auswirkungen und dem Risikopotential der legalen Drogen Alkohol und Tabak
bedeutet zwangsläufig Wasser
auf die Mühlen jener, die seit Jahren Straffreiheit für Haschisch
fordern. Sieben Millionen Personen rauchen in Frankreich regelmässig
oder gelegentlich Haschisch.
Erstmals in Frankreich haben sich Experten ausführlich mit den
Risiken der Ecstasy-Pillen auseinandergesetzt. Sie listen bekannte und
vermutete Auswirkungen auf, die von Schlafstörungen und Appetitverlust
bis zu tödlichen Fieberschüben und bleibenden Hirnschäden
reichen. Und sie warnen, daß bereits das Schlucken einer ersten Ecstasy-Pille
schlimme Folgen haben kann.
Aufsehen erregt der Bericht aber vor allem wegen der unzweideutigen
Anklage des Alkohols. Die Experten, welche die zum freien Verkauf zugelassenen
alkoholischen Getränke den gefährlichsten Drogen gleichstellen,
brechen ein eigentliches Tabu im Land von Grand Cru, Champagner, Cognac
und Co. Die Reaktion der Wein- und
Spirituosenlobby wird wohl nicht lange auf sich warten lassen.
Zahlen sprechen für sich
Doch die Zahlen und die wissenschaftlichen Aussagen zu Abhängigkeit
und Gesundheitsschäden sprechen für sich. In Frankreich sterben
hundertmal mehr Menschen (30'000 pro Jahr) wegen Alkoholmissbrauchs als
an einer Überdosis Heroin, und weitere 3000 Menschen sterben bei Verkehrsunfüllen,
bei denen Alkohol im Spiel war. Die Einschätzung der Gefährlichkeit
des Alkohols ist von grosser Bedeutung: Einer von vier Männern und
eine von zehn Frauen trinken in Frankreich zu viel. Die Frage, warum die
eine Droge frei verfügbar ist, während die andere verboten ist,
müssen indes nicht die Wissenschafter, sondern die Gesetzgeber beantworten.
18.06.98 Basler Zeitung, Rudolf Balmer